verwendete Worte:
Schreibschrift - unübertrefflich - Gürtel - Schokolade – schieben
[bin mir nicht sicher, ob die Geschichte einen Logikfehler hat. Was meint ihr?]
Tag aller Tage
Es war ein kühler Sommermorgen, doch es versprach sehr warm zu werden. Schon die vergangenen Tage war es geradezu unausstehlich heiß, die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel herab und erwärmte die Luft. Sie hoffte, es würde am Abend regnen oder gar gewittern, denn das würde zumindest für einige Stunden die Temperaturen senken. Sie würde für einige Stunden das Haus verlassen können, ohne schon auf der Türschwelle in Schweißausbrüche zu geraten, die ihr Make-up verlaufen ließen. Noch aber war es kühl, sie fröstelte sogar ein wenig in ihrer rosafarbenen, kurzen Schlafanzughose und dem knallengen, roten Top. Doch das nahm sie fast gar nicht wahr, denn heute war ihr Tag. Der Tag aller Tage. Das Ende ihrer Sehnsucht. Der Anfang ihres Lebens. Heute würde es sich entscheiden. Alles.
In ihrer schönsten Schreibschrift formulierte sie vor Wochen die Einladungen. Unendliche Versuche kostete es sie, die richtigen Worte zu finden, und diese in der richtigen Reihenfolge, an den richtigen Ort zu setzen. Ihre Worte mussten wohldurchdacht sein, jeder einzelne Begriff wurde sorgsam auf seine Eignung überprüft, mehrmals. Dann endlich war sie zufrieden und schrieb mit ihrem teuersten Füller mit dunkelblauer Tinte die Einladung auf wertvolles Papier. Wort für Wort, sorgsam. Kein Rechtschreibfehler, kein Patzer in der Schönschrift, kein Tintenkleks. Sie schrieb die Worte nicht, sie zeichnete sie, mit kunstvollen Bögen und dezenten Serifen, ein wenig verspielt, aber nicht zu sehr, zugleich erhaben, elegant. Vierzig Einladungen, vierzig kleine Kunstwerke, alle perfekt, voneinander kaum zu unterscheiden, schrieb sie in unendlicher Geduld in unendlich langen Tagen und unendlich langen Nächten. Die Karten steckte sie sorgsam in rosenrote Umschläge, auf denen vierzig verschiedene Adressen in der gleichen, kunstvollen Schrift geschrieben wurden. Es waren diese Umschläge, die man verschloss, in dem man sie mit Spucke befeuchtete. Vierzig Mal schloss sie die Augen, als ihre Zunge den bitter-giftig schmeckenden Klebestreifen der Umschläge berührte, vierzig Mal schluckte sie den Geschmack so schnell es ging hinunter. Die vierzig Einladungen in Umschlägen beklebte sie vierzig Mal mit selbstklebenden Briefmarken, für die sie lächerliche 32 Euro ausgegeben hatte, lächerlich wenig im Vergleich zum Geldwert des Papieres. Die vierzig Einladungen in Umschlägen mit Briefmarken gab sie höchstpersönlich in der Post ab, um sicher zu gehen, dass alle schnellst möglich ankommen werden. Briefkästen waren ihr noch nie geheuer- dort konnte sicher leicht ein Brief verloren gehen, und dies durfte unter keinen Umständen passieren.
Sie war aufgeregt, heute, am alles entscheidenden Tag und lief barfuß aus ihrem Schlafzimmer in die Küche, um sich einen kalten Kakao aus Fair-Trade Kakaopulver – drei gehäufte Teelöffel – und Frischmilch zu machen. Normalerweise trank sie ihren Kakao heiß, das Pulver löste sich besser in der warmen Milch und sie genoss das Gefühl, dass sie durchfuhr, wenn der Kakao durch ihre Kehle floss. Doch dazu war es heute einfach zu warm. Während sie wartete, dass sich die letzten Kakaopulverklumpen in der Milch lösten, schnitt sie Obst – eine halbe Banane, einen halben Apfel, einen Pfirsich, drei Erdbeeren – in kleine Stücke und schichtete die Obstsorten getrennt voneinander übereinander in eine schmale, aber hohe Müslischale, die an eine sehr breite Tasse erinnerte. Über das Obst löffelte sie eine Bodendecke weißen Biojogurt, auf den sie etwas Zimt streute. Eine halbe Erdbeere ganz obendrauf- perfekt. Regelmäßig war es ihr fast zu schade, ihr Frühstück auch wirklich aufzuessen, so wunderschön sah es aus, so vollendet, so perfekt. Und sie dachte daran, wie komisch es war, dass sie in all den Jahren sich nie von ihrem Lieblingsgetränk, dem Kakao, lösen konnte, obwohl sie ja eigentlich gar keine Schokolade mochte. Der Kakao war alles, was von ihrem alten Ich übrig blieb. Der Kakao war das einzige, was nicht in ihr teures Leben passte, auch dann nicht, wenn er doch Fair-Trade war. Reiche Leute trinken Kaffee zum Frühstück, richtig teure Kaffeebohnen, die sie selbst in ihrer Luxuskaffeemaschine mahlen lassen. Sie mochte keinen Kaffee.
Sie setzte sich an den weißen Tisch, dessen Oberfläche vor Sauberkeit glänzte und löffelte ihren Obstsalat, während sie aus dem Fenster schaute und die Stadt betrachtete. Es war früh am Morgen, viel zu früh, sogar zu früh für sie, die eine leidenschaftliche Frühaufsteherin war. Für gewöhnlich hatte sie bevor die Stadt erwachte schon eine halbe Stunde gejoggt, hatte Brötchen gekauft und frische Milch, hatte geduscht und sich angezogen und gefrühstückt. Fertig mit frühstücken war sie meistens gegen halb acht. Heute würde sie nicht joggen, weder die kleine Runde um den Block, noch die große Runde im Park. Sie frühstückte extra langsam, wusste nichts mit der Zeit anzufangen, die ihr noch blieb, bevor ihr großer Moment kommen sollte, wusste nicht, wie sie nicht verrückt werden sollte vor Aufregung und ließ so jeden Löffel Obstsalat genüsslich in ihrem Mund verschwinden. Sie kaute sorgsam, langsam, schindete Zeit. Sie kratzte sogar die Schüssel sauber, etwas, was sie normalerweise vermeiden würde. Sie hatte es nicht nötig, jeden Krümel aufzulecken. Nicht mehr. Danach trank sie den Kakao, zügig. Kakao konnte sie einfach nicht langsam trinken. Der schmeckte besser, wenn man viel davon im Mund hatte. Sie vertrödelte drei Stunden damit, ihre Finger- und Fußnägel mit einem Dunkelrotton zu lackieren, in drei Schichten, in aller Ruhe und aller Perfektion.
Sie wusste schon seit drei Monaten, was sie heute tragen würde: Das weiße Kleid, ärmellos, vorne aufreizend ausgeschnitten, hinten rückenfrei. Dafür war es unten nicht zu kurz, sondern reiche ihr bis über die Knie. Das war ihr wichtig, denn ihre Knie voller Narben sprachen von einer turbulenten Kindheit, von dem Hinfallen beim Fangenspielen und bei Wettläufen durch die Stadt. Das passte nicht zu ihr, nicht heute. Das Kleid war aus dünnem Stoff, Spitze. Sie drehte sich und beglückwünschte sich zum tausendsten Mal zu ihrem Kauf: Das Kleid war so wunderschön, es schmiegte sich an ihren Körper, es war perfekt. Sie hatte es eigens für diesen Tag gekauft, in einer Boutique, in die selbst sie sich noch nicht getraut hatte, aus Ehrfurcht vor den Preisen. Sie wird das Kleid heute ein einziges Mal tragen. Sie suchte in ihrem Kleiderschrank nach dem dünnen, roten Gürtel, der einen Akzent zu ihrem schlichten Kleid bieten sollte und als Farbtupfer zu ihren perfekt manikürten roten Fingernägeln passte. Sie zog die silberne Schnalle des Gürtels zu, er lag leicht auf ihrer Taille, als wäre er für das Kleid gemacht. Mit freudig zitternden Händen öffnete sie die Schatulle, in der sie den wenigen kostbaren Schmuck ihrer Mutter verwahrte und strich mit ihren Fingerkuppen über eine schlichte Kette mit einem Diamanten-Anhänger und den Ohrsteckern mit dem roten Edelstein. Diese wird sie heute tragen. Ihr schlichtes Make-up würde sie später richten, es blieb ihr noch gut eine Stunde, bis ihr Taxi sie auf den Weg bringen sollte.
Das Taxi kam pünktlich gegen Mittag, als die Sonne die Stadt in eine Sauna verwandelte. Sie trat aus ihrer Wohnung mit Blick auf die Elbe, ging aus dem ersten Stock die fünfzehn Treppenstufen zu Fuß hinunter, öffnete die Haustür und stöhnte aufgrund der Hitze, die ihr wie eine Wand entgegenschlug. Heiß und unerbittlich. Zügig lief sie auf den Dreizentimeter-Stöckelschuhen dem Taxi entgegen, begrüßte den Fahrer und nahm ihre rote Designerhandtasche auf ihren Schoß. Sie setzte sich auf die Rückbank des Taxis, wie um dem Fahrer zu signalisieren, er möchte sie nicht ansprechen, nur das dieser das Signal meist nicht erkannte. Sie ließ ihn reden und schaute aus dem Fenster, groß und laut und dreckig lag die Stadt vor ihr, die sie liebte.
Sie kam eine halbe Stunde zu früh an. Problemlos und ohne Stau fuhr das Taxi sie durch die Speicherstadt, links und rechts von ihr die großen Lagerhäuser, und weiter durch die modernen und architektonisch experimentellen Wolkenkratzer beim Überseequartier in der neuen Hafencity. Neuste Bürohäuser stehen neben Baugruben, die Elbe ist von hieraus niemals weit. Der Wolkenkratzer, den sie betritt, bietet in den oberen Stockwerken einen unvorstellbaren Ausblick, besonders bei Sonnenuntergang. Sie betrat das Gebäude durch die Vordertür, eine Schiebetür, die sie selber bedienen musste, da die Automatik seit ein paar Tagen kaputt war und die Techniker erst in sechs Tagen kommen werden. Also schob sie die Tür auf und spürte wie die kühle Ventilatorluft ihr entgegenwehte und sie wohlwollend umgab. Mit dem Aufzug fuhr sie in den siebten Stock, mit ihrer Mitarbeiterkarte öffnete sie dort ihre Bürotür. Sie checkte nur kurz ihre Mails, sog den süßlichen Duft ein, den ihr Duftspender versprühte. Besah sich in ihrem Handspiegel: Make-up: check. Frisur: check. Das Kleid saß noch immer perfekt. Es konnte losgehen.
Es war ruhig und merkwürdig verlassen auf ihrer Etage, besonders für einen Dienstag. Die anderen Etagen sind vermutlich genauso leer, dachte sie. Es lag bestimmt daran, dass die Feier auf der Dachterrasse stattfinden würde. Wer wohl schon da war? Sie fuhr weitere fünf Stockwerke mit dem Aufzug nach oben, stieg aus der verspiegelten Kabine und lief den Gang entlang, bis ganz zum Ende. Die schwere Eisentüre dort führte auf das Dach. Sie öffnete ächzend eben diese und stieg die drei Betonstufen auf die Terrasse. Irgendjemand flüstere „psscht“,was sie aber nicht hörte. Die Terrasse lag da, wie an jedem anderen Tag, der Boden war sandig und Unkraut wuchs durch die Spalten zwischen den Bodenplatten, trostlos, wäre da nicht dieser Ausblick, wegen dem sie oft und gerne für ein paar ruhige Minuten hier nach oben trat. Nichts war schöner als der Blick über die Stadt, die sie liebte und besonders dieser Ausblick war unübertreffbar. Für einen Moment lang war sie verwundert und enttäuscht und wandte sich zum Gehen. Warum war hier niemand? Ihre Einladungen waren verschickt, das Datum und der Ort ihrer Feier eindeutig gekennzeichnet. Sie hatte keine große Überraschung erwartet, aber doch zumindest, dass irgendjemand kommen würde. Doch nun: Nichts. Als sie sich zum Gehen umdrehte, blieb sie geschockt stehen: Ihre Freunde und Kollegen standen mucks-mäuschen still in ihrem Rücken und begannen laut zu feiern, als sie sich umdrehte. Kuchen stand auf Biertischen bereit und die Getränkekisten stapelten sich. Auf dem Boden lagen Unmengen von Konfetti und Luftschlangen. Ihre Gäste tanzten um sie herum, vier Kollegen hoben sie in die Luft und riefen: „Hurra, hurra, die Chefin ist da!“. Es war auf seine eigene Art perfekt. Sie lachte und schloss glücklich die Augen. Angekommen.
Schreibschrift - unübertrefflich - Gürtel - Schokolade – schieben
[bin mir nicht sicher, ob die Geschichte einen Logikfehler hat. Was meint ihr?]
Tag aller Tage
Es war ein kühler Sommermorgen, doch es versprach sehr warm zu werden. Schon die vergangenen Tage war es geradezu unausstehlich heiß, die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel herab und erwärmte die Luft. Sie hoffte, es würde am Abend regnen oder gar gewittern, denn das würde zumindest für einige Stunden die Temperaturen senken. Sie würde für einige Stunden das Haus verlassen können, ohne schon auf der Türschwelle in Schweißausbrüche zu geraten, die ihr Make-up verlaufen ließen. Noch aber war es kühl, sie fröstelte sogar ein wenig in ihrer rosafarbenen, kurzen Schlafanzughose und dem knallengen, roten Top. Doch das nahm sie fast gar nicht wahr, denn heute war ihr Tag. Der Tag aller Tage. Das Ende ihrer Sehnsucht. Der Anfang ihres Lebens. Heute würde es sich entscheiden. Alles.
In ihrer schönsten Schreibschrift formulierte sie vor Wochen die Einladungen. Unendliche Versuche kostete es sie, die richtigen Worte zu finden, und diese in der richtigen Reihenfolge, an den richtigen Ort zu setzen. Ihre Worte mussten wohldurchdacht sein, jeder einzelne Begriff wurde sorgsam auf seine Eignung überprüft, mehrmals. Dann endlich war sie zufrieden und schrieb mit ihrem teuersten Füller mit dunkelblauer Tinte die Einladung auf wertvolles Papier. Wort für Wort, sorgsam. Kein Rechtschreibfehler, kein Patzer in der Schönschrift, kein Tintenkleks. Sie schrieb die Worte nicht, sie zeichnete sie, mit kunstvollen Bögen und dezenten Serifen, ein wenig verspielt, aber nicht zu sehr, zugleich erhaben, elegant. Vierzig Einladungen, vierzig kleine Kunstwerke, alle perfekt, voneinander kaum zu unterscheiden, schrieb sie in unendlicher Geduld in unendlich langen Tagen und unendlich langen Nächten. Die Karten steckte sie sorgsam in rosenrote Umschläge, auf denen vierzig verschiedene Adressen in der gleichen, kunstvollen Schrift geschrieben wurden. Es waren diese Umschläge, die man verschloss, in dem man sie mit Spucke befeuchtete. Vierzig Mal schloss sie die Augen, als ihre Zunge den bitter-giftig schmeckenden Klebestreifen der Umschläge berührte, vierzig Mal schluckte sie den Geschmack so schnell es ging hinunter. Die vierzig Einladungen in Umschlägen beklebte sie vierzig Mal mit selbstklebenden Briefmarken, für die sie lächerliche 32 Euro ausgegeben hatte, lächerlich wenig im Vergleich zum Geldwert des Papieres. Die vierzig Einladungen in Umschlägen mit Briefmarken gab sie höchstpersönlich in der Post ab, um sicher zu gehen, dass alle schnellst möglich ankommen werden. Briefkästen waren ihr noch nie geheuer- dort konnte sicher leicht ein Brief verloren gehen, und dies durfte unter keinen Umständen passieren.
Sie war aufgeregt, heute, am alles entscheidenden Tag und lief barfuß aus ihrem Schlafzimmer in die Küche, um sich einen kalten Kakao aus Fair-Trade Kakaopulver – drei gehäufte Teelöffel – und Frischmilch zu machen. Normalerweise trank sie ihren Kakao heiß, das Pulver löste sich besser in der warmen Milch und sie genoss das Gefühl, dass sie durchfuhr, wenn der Kakao durch ihre Kehle floss. Doch dazu war es heute einfach zu warm. Während sie wartete, dass sich die letzten Kakaopulverklumpen in der Milch lösten, schnitt sie Obst – eine halbe Banane, einen halben Apfel, einen Pfirsich, drei Erdbeeren – in kleine Stücke und schichtete die Obstsorten getrennt voneinander übereinander in eine schmale, aber hohe Müslischale, die an eine sehr breite Tasse erinnerte. Über das Obst löffelte sie eine Bodendecke weißen Biojogurt, auf den sie etwas Zimt streute. Eine halbe Erdbeere ganz obendrauf- perfekt. Regelmäßig war es ihr fast zu schade, ihr Frühstück auch wirklich aufzuessen, so wunderschön sah es aus, so vollendet, so perfekt. Und sie dachte daran, wie komisch es war, dass sie in all den Jahren sich nie von ihrem Lieblingsgetränk, dem Kakao, lösen konnte, obwohl sie ja eigentlich gar keine Schokolade mochte. Der Kakao war alles, was von ihrem alten Ich übrig blieb. Der Kakao war das einzige, was nicht in ihr teures Leben passte, auch dann nicht, wenn er doch Fair-Trade war. Reiche Leute trinken Kaffee zum Frühstück, richtig teure Kaffeebohnen, die sie selbst in ihrer Luxuskaffeemaschine mahlen lassen. Sie mochte keinen Kaffee.
Sie setzte sich an den weißen Tisch, dessen Oberfläche vor Sauberkeit glänzte und löffelte ihren Obstsalat, während sie aus dem Fenster schaute und die Stadt betrachtete. Es war früh am Morgen, viel zu früh, sogar zu früh für sie, die eine leidenschaftliche Frühaufsteherin war. Für gewöhnlich hatte sie bevor die Stadt erwachte schon eine halbe Stunde gejoggt, hatte Brötchen gekauft und frische Milch, hatte geduscht und sich angezogen und gefrühstückt. Fertig mit frühstücken war sie meistens gegen halb acht. Heute würde sie nicht joggen, weder die kleine Runde um den Block, noch die große Runde im Park. Sie frühstückte extra langsam, wusste nichts mit der Zeit anzufangen, die ihr noch blieb, bevor ihr großer Moment kommen sollte, wusste nicht, wie sie nicht verrückt werden sollte vor Aufregung und ließ so jeden Löffel Obstsalat genüsslich in ihrem Mund verschwinden. Sie kaute sorgsam, langsam, schindete Zeit. Sie kratzte sogar die Schüssel sauber, etwas, was sie normalerweise vermeiden würde. Sie hatte es nicht nötig, jeden Krümel aufzulecken. Nicht mehr. Danach trank sie den Kakao, zügig. Kakao konnte sie einfach nicht langsam trinken. Der schmeckte besser, wenn man viel davon im Mund hatte. Sie vertrödelte drei Stunden damit, ihre Finger- und Fußnägel mit einem Dunkelrotton zu lackieren, in drei Schichten, in aller Ruhe und aller Perfektion.
Sie wusste schon seit drei Monaten, was sie heute tragen würde: Das weiße Kleid, ärmellos, vorne aufreizend ausgeschnitten, hinten rückenfrei. Dafür war es unten nicht zu kurz, sondern reiche ihr bis über die Knie. Das war ihr wichtig, denn ihre Knie voller Narben sprachen von einer turbulenten Kindheit, von dem Hinfallen beim Fangenspielen und bei Wettläufen durch die Stadt. Das passte nicht zu ihr, nicht heute. Das Kleid war aus dünnem Stoff, Spitze. Sie drehte sich und beglückwünschte sich zum tausendsten Mal zu ihrem Kauf: Das Kleid war so wunderschön, es schmiegte sich an ihren Körper, es war perfekt. Sie hatte es eigens für diesen Tag gekauft, in einer Boutique, in die selbst sie sich noch nicht getraut hatte, aus Ehrfurcht vor den Preisen. Sie wird das Kleid heute ein einziges Mal tragen. Sie suchte in ihrem Kleiderschrank nach dem dünnen, roten Gürtel, der einen Akzent zu ihrem schlichten Kleid bieten sollte und als Farbtupfer zu ihren perfekt manikürten roten Fingernägeln passte. Sie zog die silberne Schnalle des Gürtels zu, er lag leicht auf ihrer Taille, als wäre er für das Kleid gemacht. Mit freudig zitternden Händen öffnete sie die Schatulle, in der sie den wenigen kostbaren Schmuck ihrer Mutter verwahrte und strich mit ihren Fingerkuppen über eine schlichte Kette mit einem Diamanten-Anhänger und den Ohrsteckern mit dem roten Edelstein. Diese wird sie heute tragen. Ihr schlichtes Make-up würde sie später richten, es blieb ihr noch gut eine Stunde, bis ihr Taxi sie auf den Weg bringen sollte.
Das Taxi kam pünktlich gegen Mittag, als die Sonne die Stadt in eine Sauna verwandelte. Sie trat aus ihrer Wohnung mit Blick auf die Elbe, ging aus dem ersten Stock die fünfzehn Treppenstufen zu Fuß hinunter, öffnete die Haustür und stöhnte aufgrund der Hitze, die ihr wie eine Wand entgegenschlug. Heiß und unerbittlich. Zügig lief sie auf den Dreizentimeter-Stöckelschuhen dem Taxi entgegen, begrüßte den Fahrer und nahm ihre rote Designerhandtasche auf ihren Schoß. Sie setzte sich auf die Rückbank des Taxis, wie um dem Fahrer zu signalisieren, er möchte sie nicht ansprechen, nur das dieser das Signal meist nicht erkannte. Sie ließ ihn reden und schaute aus dem Fenster, groß und laut und dreckig lag die Stadt vor ihr, die sie liebte.
Sie kam eine halbe Stunde zu früh an. Problemlos und ohne Stau fuhr das Taxi sie durch die Speicherstadt, links und rechts von ihr die großen Lagerhäuser, und weiter durch die modernen und architektonisch experimentellen Wolkenkratzer beim Überseequartier in der neuen Hafencity. Neuste Bürohäuser stehen neben Baugruben, die Elbe ist von hieraus niemals weit. Der Wolkenkratzer, den sie betritt, bietet in den oberen Stockwerken einen unvorstellbaren Ausblick, besonders bei Sonnenuntergang. Sie betrat das Gebäude durch die Vordertür, eine Schiebetür, die sie selber bedienen musste, da die Automatik seit ein paar Tagen kaputt war und die Techniker erst in sechs Tagen kommen werden. Also schob sie die Tür auf und spürte wie die kühle Ventilatorluft ihr entgegenwehte und sie wohlwollend umgab. Mit dem Aufzug fuhr sie in den siebten Stock, mit ihrer Mitarbeiterkarte öffnete sie dort ihre Bürotür. Sie checkte nur kurz ihre Mails, sog den süßlichen Duft ein, den ihr Duftspender versprühte. Besah sich in ihrem Handspiegel: Make-up: check. Frisur: check. Das Kleid saß noch immer perfekt. Es konnte losgehen.
Es war ruhig und merkwürdig verlassen auf ihrer Etage, besonders für einen Dienstag. Die anderen Etagen sind vermutlich genauso leer, dachte sie. Es lag bestimmt daran, dass die Feier auf der Dachterrasse stattfinden würde. Wer wohl schon da war? Sie fuhr weitere fünf Stockwerke mit dem Aufzug nach oben, stieg aus der verspiegelten Kabine und lief den Gang entlang, bis ganz zum Ende. Die schwere Eisentüre dort führte auf das Dach. Sie öffnete ächzend eben diese und stieg die drei Betonstufen auf die Terrasse. Irgendjemand flüstere „psscht“,was sie aber nicht hörte. Die Terrasse lag da, wie an jedem anderen Tag, der Boden war sandig und Unkraut wuchs durch die Spalten zwischen den Bodenplatten, trostlos, wäre da nicht dieser Ausblick, wegen dem sie oft und gerne für ein paar ruhige Minuten hier nach oben trat. Nichts war schöner als der Blick über die Stadt, die sie liebte und besonders dieser Ausblick war unübertreffbar. Für einen Moment lang war sie verwundert und enttäuscht und wandte sich zum Gehen. Warum war hier niemand? Ihre Einladungen waren verschickt, das Datum und der Ort ihrer Feier eindeutig gekennzeichnet. Sie hatte keine große Überraschung erwartet, aber doch zumindest, dass irgendjemand kommen würde. Doch nun: Nichts. Als sie sich zum Gehen umdrehte, blieb sie geschockt stehen: Ihre Freunde und Kollegen standen mucks-mäuschen still in ihrem Rücken und begannen laut zu feiern, als sie sich umdrehte. Kuchen stand auf Biertischen bereit und die Getränkekisten stapelten sich. Auf dem Boden lagen Unmengen von Konfetti und Luftschlangen. Ihre Gäste tanzten um sie herum, vier Kollegen hoben sie in die Luft und riefen: „Hurra, hurra, die Chefin ist da!“. Es war auf seine eigene Art perfekt. Sie lachte und schloss glücklich die Augen. Angekommen.