Heyho, hier ist die Reizwortgeschichte zu den Worten von Stille. Noch so lang wie die erste, dafür gibt es möglicherweise noch eine Fortsetzung :)

Wörter: Babyklappe – Turm – zinnober – Schwester – Analyse

Ritter bleibt Ritter

Kunibert Sittlich saß in seiner Lieblingsbar und schlürfte sein fünftes Bier. Er saß da, wie er jeden Tag dort saß, zu jeder Tageszeit und Bier schlürfte. Der Wirt hatte Kuniberts Platz dauerhaft für ihn reserviert, doch Kunibert war der erste Gast, der kam und der letzte, der ging, sodass ihm niemals ein anderer Gast seinen Platz streitig gemacht hätte. Die Hälfte des Umsatzes vom „Zum goldenen Hengst“ verdiente der Wirt mit Kunibert. Während die kleine, alte Bar tagesüber sterbensleer war, füllten sich die heruntergekommenen Stühle am Abend restlos, denn „Zum goldenen Hengst“ war die einzige Bar in einem Umkreis von 100 Kilometern. Sie hatte genau sechs Stühle und sechs Stammgäste, einer von ihnen war Kunibert. Es gab nur eine Sorte Bier in der kleinen Kneipe und auch keine anderen Getränke. Die in die Jahre gekommene Kneipe bot einen Sammelplatz für Verlierer, Alkoholiker und gescheiterte Existenzen. Ritter Kunibert Sittlich war alles davon.

Es war einmal ein Ritter, der hieß Kunibert Sittlich. In guten Zeiten saß er abends im „Zum goldenen Hengst“, welches auch einmal gute Zeiten hatte, und erzählte über einem Bier von seinen neusten Abenteuern. Von Drachen und bösen Zauberern und weit entfernten Königreichen. Kunibert saß damals da, in seiner blankgeputzten, silbernen Ritterrüstung und strahlte mit der kleinen Bar um die Wette. Die Reklameschrift über dem Hauseingang leuchtete in neongrün und der Metallhengst auf dem Dach war herausgeputzt. Innen standen sechs Stühle, die zu ihrer Zeit noch neu waren an neuen Tischen, die ebenso wie der Tresen aus Holz waren, wie das so im Wilden Westen halt war. Die Wände waren zinnoberfarben gestrichen und kalte Neonleuchten brachten schummriges Licht in die Kneipe. Hinter dem Haus standen Paddocks für die Ritterpferde mit köstlichem Heu und frischen Wasser für die treuen Arbeitstiere.

So wie die Bar langsam verstaubte und alterte, alterte auch der Wirt hinter dem Tresen und so verstaubten auch seine sechs Stammgäste. Der Postbote der Stadt, der immer den neusten Tratsch erzählte, erkrankte an Krebs, der Landwirt, der die Stadt mit Gedreideprodukten versorgte, bekam einen Bandscheibenvorfall, der Oberschulrat erblindete mit der Zeit, dem Sänger seine Stimme wurde heiser und krächzend, der Gauner verlor an Geschick und Schnelligkeit und Kunibert, der Ritter- er litt seit ewigen Jahren an einem gebrochenen Herzen. Seine Frau, die er jahrelang umworben und geschmeichelt hat, bis sie der Vermählung zustimmte, war die schönste Frau in der Stadt und klug noch dazu. Doch als der stolze Ritter nach einigen Jahren fast das ganze Jahr über unterwegs war, um das Böse der Welt zu bekämpfen, reichte sie die Scheidung ein. Sie verliebte sich in einen Händler, mit dem sie fortan auf Reisen durch den ganzen wilden Westen war und das fahrende Leben liebte. Die Trennung von Ritter Kunibert war damals wirklich ein Skandal, denn eine schwangere Frau verließ ihren Mann nicht und legte schon gar nicht- so erzählten es Gerüchte- das neugeborene Kind in eine Babyklappe. Das war vor 17 Jahren.
Seitdem verstaubte die Bar und verstaubte immer mehr, drei Buchstaben der Leuchtreklame strahlten noch Neonlicht in die Nacht, der Hengst auf dem Dach saß mitgenommen aus: zahlreiche Stürme und Vogelkot hatten ihm zugesetzt. Die holzigen Tische und Stühle im Inneren von „Zum goldenen Hengst“ waren voller Kerben und abgenutzten Ecken und gekritzelten Sprüchen nach zu viel Alkohol. Die Farbe an der Wand mehr schmutzig-braun als zinnober. In der Kneipe passierte Tag für Tag das gleiche, nur die steigende Flickenanzahl an Kuniberts Hose und die Löcher in seinem T-Shirt sowie die ergrauenden Haare deuteten darauf hin, dass die Zeit auch in der Kneipe nicht stehen blieb. Doch heute sollte kein Tag sein wie jeder andere.

Es war gegen zwölf Uhr, als der Postbote die Tür der Kneipe aufschlug, sodass die fast aus ihren Angeln flog und schrie:
Postbote: „Ich hab da was gehört, ich hab da war gehört, OMG, das ist echt der Hammer, so einen tollen Tratsch hatte ich schon seit fünfzehn Jahren nicht mehr! Hört alle zu! Hinter den sieben Bergen und hinter sieben Tälern, etwas sieben Meilen entfernt von hier, da wird eine junge Frau gefangen gehalten in einem Turm. Dieses Mädchen, so erzählt man, sei bildschön, so wie man es noch nicht gesehen hat. Ritter Sittlich, du musst sie retten, das ist ein neues Abenteuer für dich!“
Der Wirt war verwirrt und hielt seinen Zeigefinger in die Luft und sprach:
Wirt: „Mooooment, seid kurz mal still, ich muss verarbeiten, was du gesagt hast. …. Okay, verstanden. Kommt gar nicht in Frage, ich gehe ja Pleite, wenn Kunibert nicht mehr hier ist, ihr anderen trinkt ja nichts mehr außer diesem schrecklichen Malzbier, dass ihr euch selber mitbringt, weil ich kein Malzbier verkaufe! Ritter, sag du doch auch was!“
Ritter: hat nicht zugehört und schweigt.

Der Postbote redet weiter und der Ritter hörte weiter nicht zu und der Postbote erzählte alle Details über die junge Frau und erfindet noch gut ein Dutzend hinzu. Und er redet, bis es irgendwann Abend ist und sich die Stammtischplätze der Kneipe füllen und sich zudem ein paar Straßenhändler an den Tresen setzen, angezogen von dem spannenden Gerücht. Und so erzählte der Postbote die Gerüchte von neuem und die Gäste waren sich einig, dass das Mädchen gerettet werden musste. Und da diese Aufgabe gewöhnlich von Rittern übernommen wurde und Kunibert der einzige und letzte Ritter im ganzen westlichen Distrikt vom Wilden Westen war, stand die Traube von Gästen bald vor Kunibert. Und sie beschwatzten ihn, er möge doch das arme Mädchen retten. Und sie beschwatzten ihn die ganze Nacht und als der Wirt um 2 Uhr nachts wie immer die Bar schließen wollte, weigerten sich die Gäste zu gehen, ehe der Ritter versprach, dass Mädchen zu befreien. Und Kunibert weigerte sich und die Gäste beschwatzten ihn weiter und um drei Uhr flehte auch der Wirt Kunibert an, er solle das Mädchen befreien, denn er wollte endlich schlafen gehen und um halb fünf stimmte Kunibert schließlich entnervt zu, denn die Gäste versperrten ihm den Ausgang und er musste so langsam auf die Toilette und das Plumpsklo war außerhalb der Kneipe und außerdem konnte er ihr Gerede nicht mehr hören.

Ritter: „Okay, ich mach’s“. Schrie Kunibert. Die Gäste jubelten. Der Wirt scheuchte alle vor die Tür und legte sich ins Bett. Der Ritter wankte in seine Hütte und nüchterte zwei Tage lang aus. Dann fing er an, Vorbereitungen für seine Reise zu treffen. Zuerst besuchte er seine Schwester und ließ sich von ihr mit reichlich leckerer Verpflegung ausstatten. Er putzte Sattel und Trense und lieh sich einen jungen, ausdauernden Schimmel. Schließlich legte er sein Schwert und seine alte Rüstung bereit.

Zwei Wochen nachdem er dem Abenteuer zugestimmt hatte, war es soweit: Morgen sollte es losgehen. Vor den anderen zeigte sich Kunibert mürrisch und wortkarg, doch nach langem Nachdenken und einer genauen Analyse der Situation, stellte er zwei Sachen fest: 1. Er war wirklich der einzige Ritter, der dem gefangenen Mädchen helfen konnte und 2. Das war eben seine Aufgabe, denn Ritter blieb nun mal Ritter. Und ganz heimlich freute sich Ritter Sittlich doch ein wenig auf sein neues Abenteuer.


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die stille am 28.Jun 16, 00:46  | Permalink
:-) Lustig. Spannend. Du hast eine schöne Phantasie.
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